Analysis-Blog: Folge 2
Peter Becker
veröffentlicht: 07 Mar 2024, zuletzt geändert: 29 Mar 2024 15:43
Schlüsselwörter: Körper, angeordneter Körper, geordneter Körper, reflexiv, antisymmetrisch, transitiv, Monotonie der Addition, Monotonie der Multiplikation, Ordnungsrelation, Ungleichung
In der Analysis benötigen wir nicht nur Gleichungen, sondern auch Ungleichungen spielen eine ganz entscheidende Rolle. Daher sollten wir in der Lage sein, auch mit Ungleichungen zu rechnen. Solche Ungleichungen basieren auf einer Anordnung der Körperelemente. In dieser Blog-Folge schauen wir uns an, wie solch ein angeordneter Körper charakterisiert ist.
Die Köperaxiome aus der vorangegangenen Blog-Folge garantieren uns, dass wir in den reellen Zahlen mit den arithmetischen Operatoren $+,-,\cdot,/$ so rechnen können, wie wir es gewohnt sind. Dies benötigen wir insbesondere, um Gleichungen und Gleichungssysteme zu lösen.
In der Analysis spielen aber auch Ungleichungen eine ganz entscheidende Rolle. Daher sollten wir in der Lage sein, auch mit Ungleichungen zu rechnen. Ungleichungen basieren auf einer Anordnung der Körperelemente. Statt Körperelemente nur auf Gleichheit prüfen zu können (Gilt $a=b$ oder nicht?), wollen wir Körperelemente beispielsweise auch nach ihrer Größe sortieren können. Eine mathematische Struktur, die uns das erlaubt, ist eine Ordnungsrelation. Als Symbol für solch eine Ordnungsrelation verwendet man üblicherweise das Zeichen $\leq$. Die Aussage $a \leq b$ steht dann für "$a$ ist kleiner oder gleich $b$".
Natürlich muss eine Ordnungsrelation gewisse Eigenschaften aufweisen, damit wir in ihr widerspruchsfrei rechnen können. Die folgende Definition legt fest, was wir von einer Ordnungsrelation verlangen.
Es sei $({\cal K}, +, \cdot)$ ein Körper.
Eine binäre Relation $\leq$ auf $\cal K$, die für alle $a,b,c \in \cal K$ die folgenden Eigenschaften erfüllt, heißt Ordnungsrelation.
Axiom (A1) sagt aus, dass wir zwei beliebige Körperelemente miteinander vergleichen können. Es gibt also keine "Lücken" bei den Vergleichsmöglichkeiten. Dies ist beispielsweise anders als bei einer Halbordnung, einer binären Relation, die reflexiv, antisymmetrisch und transitiv ist. In einer Halbordnung kann es auch nicht vergleichbare Elemente geben, d. h. Elemente $a$ und $b$, für die weder $a \leq b$ noch $b \leq a$ gilt. Dies ist bei einer Ordnungsrelation nicht erlaubt. Wir haben also eine totale Ordnung.
In (A1) versteckt sich auch die Reflexivität. Für $b=a$ wird (A1) zu der Aussage \[ a \leq a \vee a \leq a \] was natürlich äquivalent zu $a \leq a$. Damit ist implizit auch die Reflexivität erfüllt.
Die Axiome (A2) und (A3) sind typisch für Ordnungen. Gemäß (A2) sind die Aussagen $a \leq b$ und $b \leq a$ genau dann beide erfüllt, wenn $a=b$ gilt. Dies gibt uns auch eine neue Möglichkeit, die Aussage $a=b$ zu beweisen, nämlich indem wir sowohl $a\leq b$ als auch $b \leq a$ zeigen.
Die in (A3) verlangte Transitivität ist eine typische Relationseigenschaft, die Dir sicher in anderem Zusammenhang schon einmal begegnet ist. Allgemein bedeutet transitiv: Wenn $a$ mit $b$ in Beziehung steht und $b$ mit $c$, dann steht auch $a$ mit $c$ in Beziehung. Die Beziehung hier lautet "kleiner oder gleich". Also: Wenn $a$ kleiner oder gleich $b$ ist und $b$ kleiner oder gleich $c$, dann ist auch $a$ kleiner oder gleich $c$. Es klingt vernünftig, so etwas von einer Ordnungsrelation zu fordern.
Die Axiome (A1) und (A3) legen eine totale Ordnung fest. Sie garantieren damit, dass wir beispielsweise eine endliche Teilmenge der reellen Zahlen widerspruchsfrei und eindeutig sortieren können. Was uns noch fehlt, ist, diese Ordnungsregeln mit den arithmetischen Operatoren "$+$" und "$\cdot$" zu verbinden. Genau dies leisten die Axiome (A4) und (A5). Axiom (A4) garantiert uns, dass wir mit Ungleichungen additiv rechnen können, z. B. in der folgenden Art: \[ x - 7 \leq 13\quad \Longrightarrow \quad x \leq 20. \] Ausgehend von der Ungleichung $x-7 \leq 13$ dürfen wir gemäß (A4) auf beiden Seiten der Ungleichung den gleichen Wert addieren. D. h., wenn wir auf beiden Seiten $7$ addieren, erhalten wir $x\leq 20$.
Axiom (A5) ist für die Multiplikation das, was (A4) für die Addition ist. Zunächst mal sagt (A5) nur aus, dass das Produkt von zwei Zahlen, die größer oder gleich null sind, auch wieder größer oder gleich null ist. Dies klingt zunächst unspektakulär, aber im Zusammenspiel mit (A4) und den Rechenregeln im Körper können wir damit schon eine lineare Ungleichung auflösen. Hierzu ein kleines Beispiel: \begin{align} & 3x \leq 6 \\ \stackrel{A4}{\Longrightarrow}\quad & 0 \leq 6 - 3x \\ \stackrel{A5}{\Longrightarrow}\quad & 0 \leq \frac{1}{3}(6 -3x) \\ \stackrel{D}{\Longrightarrow}\quad & 0 \leq 2 - x \\ \stackrel{A4}{\Longrightarrow}\quad & x \leq 2. \end{align} Und warum haben wir nicht direkt beide Seiten der Ungleichung $3x \leq 6$ durch $2$ dividiert? Weil wir dafür noch keine Rechenregel haben! Daran siehst Du auch, was unsere nächste wichtige Aufgabe sein wird, nämlich viele schöne Rechenregeln für Ungleichungen zu formulieren und zu beweisen. Dies wird das Thema der kommenden Blog-Folge sein.
Es bietet sich an, neben $\leq$ auch andere Ordnungsbeziehungen wie $\geq, <$ und $>$, die wir in der Realität ständig nutzen, einzuführen. Dies geht ziemlich einfach.
Es sei $({\cal K}, +, \cdot)$ ein Körper und $\leq$ eine Ordnungsrelation auf $\cal K$.
Für $a,b\in {\cal K}$ gelte:
\begin{eqnarray*} a \geq b & :\Leftrightarrow & b \leq a \\ a < b & :\Leftrightarrow & a \leq b \wedge a \neq b \\ a > b & :\Leftrightarrow & b < a. \end{eqnarray*}Ich nutze die Gelegenheit, um Dich an dieser Stelle kurz daran zu erinnern, was die Schreibweise \[ \alpha :\Leftrightarrow \beta \] bedeutet, nämlich: Die Aussage $\alpha$ gilt per Definition genau dann, wenn die Aussage $\beta$ gilt. Wir nutzen diese Art der Definition typischerweise, um, ohne viele Worte nutzen zu müssen, neue Begriffe oder Bezeichnungen einzuführen. Auf der Seite mit dem Doppelpunkt steht dann die neue zu definierende Bezeichnung, hier z. B. "$\geq$" und auf der anderen Seite eine Aussage mit schon definierten Bezeichnungen.
Mit den so festgelegten Bezeichnungen fällt es uns nun leicht zu definieren, was eine positive bzw. eine negative Zahl ist.
Es sei $({\cal K}, +, \cdot)$ ein Körper und $\leq$ eine Ordnungsrelation aus $\cal K$.
Eine Zahl $a \in {\cal K}$ heißt
positiv, wenn $a > 0_{\cal K}$ gilt und
negativ, wenn $a < 0_{\cal K}$ gilt.
Ein Körper $({\cal K}, +, \cdot)$ kann angeordnet werden, wenn es möglich ist, auf diesem Körper eine Ordnungsrelation $\leq$ zu definieren.
Das Tupel $({\cal K}, +, \cdot, \leq)$ ist dann ein angeordneter Körper.
Jetzt sind wir bereit, für die reellen Zahlen das zweite Axiom festzulegen. Wir verlangen natürlich, dass $\R$ ein angeordneter Körper ist.
Der Körper $\R$ der reellen Zahlen kann angeordnet werden.
An dieser Stelle möchte ich noch zwei Bezeichnungen festlegen, die ich im weiteren Verlauf des Kurses nutzen werde.
$\R_+ := \{x\in \R | x > 0\}$ bezeichnet die Menge der positiven reellen Zahlen.
$\R_\geq := \{x\in \R | x \geq 0\}$ bezeichnet die Menge der nichtnegativen reellen Zahlen.
Jetzt, da $\R$ ein angeordneter Körper ist, sollten wir Rechenregeln für Ungleichungen aufstellen. Je mehr wir haben, desto einfacher können wir mit Ungleichungen rechnen. Fangen wir also gleich mit ersten, ziemlich einfachen Regeln an.
Für alle $a,b,c \in \R$ gilt:
$a \geq 0 \Rightarrow -a \leq 0$
$a \leq 0 \Rightarrow -a \geq 0$
$(a \leq b \wedge c \geq 0) \Rightarrow a\cdot c \leq b \cdot c$
$(a \leq b \wedge c \leq 0) \Rightarrow a\cdot c \geq b \cdot c$
Die Regeln (i) und (ii) zeigen uns, dass sich das Vorzeichen einer Zahl ändert, wenn wir zum additiv Inversen der Zahl übergehen. Regel (iii) gibt uns die Möglichkeit, eine Ungleichung mit einer nichtnegativen Zahl zu multiplizieren, d. h. beide Seiten der Ungleichung werden mit dem gleichen Faktor $c\geq 0$ multipliziert. Dabei bleibt die Ordnungsrelation erhalten. Regel (iv) ist analog zu Regel (iii) für einen nichtpositiven Faktor, also $c\leq 0$. Hier dreht sich die Ordnungsrelation herum, d. h. aus $\leq$ wird $\geq$.
\[ a \geq 0 \stackrel{Def \geq}{\Longrightarrow} 0 \leq a \stackrel{A4}{\Longrightarrow} 0 + (-a) \leq a + (-a) \Longrightarrow -a \leq 0 \]
\[ a \leq 0 \stackrel{A4}{\Longrightarrow} a + (-a) \leq 0 + (-a) \Longrightarrow 0 \leq -a \stackrel{Def \geq}{\Longrightarrow} -a \geq 0 \]
$ $ \begin{eqnarray*} a \leq b & \stackrel{A4}{\Longrightarrow} & 0 \leq b -a \\ & \stackrel{A5}{\Longrightarrow} & 0 \leq c\cdot(b-a) \\ & \Longrightarrow & 0 \leq bc - ac \\ & \stackrel{A4}{\Longrightarrow} & ac \leq bc \end{eqnarray*}
Nach (ii) ergibt sich $-c\geq 0$. Damit folgt: \begin{eqnarray*} a \leq b & \stackrel{A4}{\Longrightarrow} & 0 \leq b -a \\ & \stackrel{A5}{\Longrightarrow} & 0 \leq (-c)\cdot(b-a) \\ & \Longrightarrow & 0 \leq ac - bc \\ & \stackrel{A4}{\Longrightarrow} & bc \leq ac \\ & \stackrel{Def\geq}{\Longrightarrow} & ac \geq bc \end{eqnarray*}
Diese Rechenregeln können wir auch in einer strikten Variante formulieren.
Für alle $a,b,c \in \R$ gilt:
$a > 0 \Rightarrow -a < 0$
$a < 0 \Rightarrow -a > 0$
$(a < b \wedge c > 0) \Rightarrow a\cdot c < b \cdot c$
$(a < b \wedge c < 0) \Rightarrow a\cdot c > b \cdot c$
Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass für alle $a \in \R$ die folgenden Implikationen gelten: \[ a > 0 \Rightarrow a \geq 0 \quad \text{und} \quad a < 0 \Rightarrow a \leq 0. \] Typische Frage in der Vorlesung: Warum? Weil in der Logik aus einer stärkeren immer eine schwächere Aussage folgt. Wenn $\alpha$ und $\beta$ Aussagen sind, dann ist \[ \alpha \wedge \beta \Longrightarrow \alpha \] eine Tautologie, also eine Ausssage, die stets wahr ist. Genau diese Situation haben wir hier, denn per Definition entspricht $a > 0$ der Aussage $a \geq 0 \wedge a \neq 0$. Aus dieser stärkeren Aussage folgt dann insbesondere die schwächere Aussage $a \geq 0$.
Damit erfüllen alle $a,b,c\in\R$, die die Voraussetzungen in den Aussagen (i) bis (iv) dieser Proposition erfüllen, auch die Voraussetzungen (i) bis (iv) der Proposition 1, also die Voraussetzungen der nicht strikten Version. Mir müssen daher nur noch begründen, dass in den Folgerungen der strikten Aussagen (i) bis (iv) keine Gleichheit auftreten kann. Dies ist nicht schwierig.
Zu (i) und (ii): In jedem Körper gilt \[ a \neq 0 \Rightarrow -a \neq 0. \] Damit muss in (i) $-a < 0$ und in (ii) $-a >0$ in den Folgerungen gelten.
Zu (iii) und (iv): Wir nehmen an, es gilt Gleichheit, also $ac = bc$. Mit dieser Annahme ergibt sich: \begin{align} & ac = bc \\ \Rightarrow\quad & ac - bc = 0 \\ \Rightarrow\quad & (a -b)c = 0 \\ \Rightarrow\quad & a = b \vee c = 0 \end{align} Die letzte Aussage folgt, weil ein Körper nullteilerfrei ist. Sowohl $a=b$ als auch $c=0$ ist aber in den Voraussetzungen der Aussagen (iii) und (iv) ausgeschlossen. Damit kann es nicht sein, dass $ac = bc$ gilt.
Die nachfolgende Graphik veranschaulicht sehr schön Punkt (iii) der letzten Proposition.
Eine Ungleichung $a < b$ wird durch ein positives $c$ auf eine andere Stelle des Zahlenstrahls abgebildet. Dabei bleibt die Ordnungsbeziehung "kleiner" in Form von $ac < bc$ erhalten. Wäre $c$ negativ, würde sich ein an der senkrechten Achse gespiegeltes Bild ergeben, womit die Ordnungsbeziehung vertauscht würde. Dann hätten wir $bc < ac$, was Punkt (iv) der letzten Proposition entspricht.
Damit haben wir aus den Anordnungsaxiomen erste, ziemlich einfache Rechenregeln für Ungleichungen hergeleitet. Natürlich reicht dies noch nicht aus. Daher werden wir uns in der nächsten Blog-Folge weiterhin mit Rechenregeln für Ungleichungen beschäftigen und eine Reihe weiterer Regeln herleiten.