\( \newcommand{\I}{\textnormal{i}} \newcommand{\e}{\textnormal{e}} \renewcommand{\Re}{\textnormal{Re}} \renewcommand{\Im}{\textnormal{Im}} \newcommand{\R}{\mathbb{R}} \newcommand{\N}{\mathbb{N}} \newcommand{\Z}{\mathbb{Z}} \newcommand{\C}{\mathbb{C}} \newcommand{\K}{{\cal K}} \)

Analysis-Blog: Folge 71

Partielle Integration

Unsere erste Methode zur Konstruktion von Stammfunktionen


Peter Becker

veröffentlicht: 30 Dec 2024, zuletzt geändert: 06 Jan 2025 19:07

Schlüsselwörter: Integral, unbestimmtes Integral, Stammfunktion, partielle Integration

Die partielle Integration ist unser erstes wichtiges Werkzeug zur Konstruktion von Stammfunktionen. Sie basiert auf der Produktregel für Ableitungen.

Das unbestimmte Integral

Wir führen zunächst den Begriff des unbestimmten Integrals ein.

Definition

Sei $I$ ein Intervall und $f:I\rightarrow\R$ stetig.

Dann heißt die Menge \[ \int f(x)\,dx := \{F| F \textnormal{ ist Stammfunktion von } f\} \] das unbestimmte Integral von $f$.

Üblicherweiser schreibt man \[ F(x) = \int f(x)\,dx, \] wenn $F(x)$ eine Stammfunktion von $f(x)$ ist. Eigentlich ist dies nicht ganz korrekt, denn $\int f(x)\,dx$ bezeichnet ja gemäß obiger Definition eine Menge. Richtigerweise müsste es daher eigentlich $F(x)\in \int f(x)\,dx$ heißen. Trotzdem hat sich die Schreibweise mit dem Gleichheitszeichen durchgesetzt.

Beim unbestimmten Integral gibt man also keine Integrationsgrenzen an. Wenn es z. B. heißt

Bestimme $\int x^2\,dx$!
dann ist damit gemeint, dass Du eine Stammfunktion zu $f(x)=x^2$ finden sollst. Wir wissen, dass sich alle Stammfunktionen nur um eine Konstante $c$ unterscheiden. Daher wäre \[ \int x^2\,dx = \frac{1}{3} x^3 + c \] eine gute Lösung für diese Aufgabe.

Sind Integrationsgrenzen angegeben, dann sprechen wir dagegen von einem bestimmten Integral. Wenn es z. B. heißt:

Bestimme $\int_1^3 x^2\,dx$!
dann ist die Antwort eine reelle Zahl: \[ \int_0^3 x^2\,dx = \left. \frac{1}{3}x^3\right|_{x=0}^{x=3} = \frac{27}{3} - 0 = 9. \]

Regel der partiellen Integration

Die Regel der partiellen Integration ist eine Folge aus der Produktregel für Ableitungen. Wenn zwei differenzierbare Funktion $f(x)$ und $g(x)$ gegeben sind, dann gilt \[ (f(x)\cdot(g(x))' = f'(x)g(x) + f(x)g'(x). \] Jetzt bilden wir auf beiden Seiten das unbestimmte Integral, also eine Stammfunktion. Dann heben sich links Ableitung und Integral auf und rechts entstehen wegen der Linearität des Integrals zwei Integrale: \[ f(x)g(x) = \int f'(x) g(x)\,dx + \int f(x) g'(x)\,dx. \] Wenn wir den zweiten Summanden der rechten Seite auf die linke Seite bringen, entsteht die Gleichung \[ \int f'(x) g(x)\,dx = f(x)g(x) - \int f(x) g'(x)\,dx. \] Dies ist die Regel der partiellen Integration.

Satz

Sei $I\subseteq\R$ ein Intervall und $f,g:I\rightarrow\R$ seien stetig differenzierbar.

Dann gilt: \[ \int f'(x)g(x)\,dx = f(x)g(x) - \int f(x)g'(x)\,dx. \]

Angenommen wir möchten $\int h(x)\,dx$ bestimmen. Für die Anwendung der partiellen Integrationsregel müssen wir die Funktion $h(x)$ in der Form $h(x) = f'(x)g(x)$ ausdrücken. Dann können wir die partielle Integration anwenden. Es verbleibt allerdings noch das unbestimmte Restintegral \[ \int f(x) g'(x)\,dx. \] Dies sollte nun im Idealfall direkt bestimmbar oder zumindest einfacher bestimmbar sein als das Ausgangsintegral $\int h(x)\,dx$.

Hierzu einige Beispiele.

Beispiel 1

  1. Bestimme $\int x \e^x\,dx$. \[ \begin{array}{lll} f'(x) = \e^x & \Rightarrow & f(x) =\e^x \\ g(x) = x & \Rightarrow & g'(x) = 1 \end{array} \] Damit erhalten wir: \[ \int x \e^x\,dx = x \e^x - \int 1\cdot \e^x\,dx = x \e^x - \e^x = (x-1)\e^x + c. \]
  2. Bestimme $\int \log(x)\,dx$. \[ \begin{array}{lll} f'(x) = 1 & \Rightarrow & f(x) =x \\ g(x) = \log(x) & \Rightarrow & g'(x) = \frac{1}{x} \end{array} \] Damit erhalten wir: \[ \int 1\cdot\log(x)\,dx = x \log(x) - \int x\cdot\frac{1}{x}\,dx = x \log(x) - x + c. \]
  3. Bestimme $\int x\sin(x)\,dx$. \[ \begin{array}{lll} f'(x) = \sin(x) & \Rightarrow & f(x) = -\cos(x) \\ g(x) = x & \Rightarrow & g'(x) = 1 \end{array} \] Damit erhalten wir: \[ \int x\cdot\sin(x)\,dx = -x\cos(x) + \int 1\cdot\cos(x)\,dx = -x\cos(x) + \sin(x) + c. \]

Wenn Du überprüfen willst, ob Deine hergeleitete Stammfunktion korrekt ist, dann mache einfach die Probe: Leite diese Stammfunktion ab! Wenn Du richtig gerechnet hast, muss durch das Ableiten die Funktion entstehen, zu der Du eine Stammfunktion bestimmen wolltest.

Beispiel 2

In (iii) von Beispiel 1 haben wir \[ \int x\cdot\sin(x)\,dx = -x\cos(x) + \sin(x) + c \] ermittelt. Stimmt das? Wir leiten (mit $c=0$) ab: \begin{eqnarray*} (-x\cos(x) + \sin(x))' & = & (-1)\cos(x) + (-x)(-\sin(x) + \cos(x) \\[2mm] & = & -\cos(x) + x\sin(x) + \cos(x) \\[2mm] & = & x\sin(x). \end{eqnarray*} Also haben wir korrekt gerechnet und \[ F(x) = -x\cos(x) + \sin(x) \] ist tatsächich eine Stammfunktion von $f(x) = x\sin(x)$.

Bei allen Funktionen aus Beispiel 1 mussten wir die partielle Integration jeweils nur einmal anwenden, um eine Stammfunktion zu erhalten. Du kannst nicht davon ausgehen, dass dies immer so ist. Manchmal müssen wir die partielle Integration auch mehrmals anwenden, um zum Ziel zu kommen, wie das folgende Beispiel zeigt.

Beispiel 3

Wir wollen \[ \int x^2 \e^{3x}\,dx \] bestimmen und nutzen hierzu partielle Integration. \[ \begin{array}{lcl} f'(x) = \e^{3x} & \Rightarrow & f(x) = \frac{1}{3} \e^{3x} \\ g(x) = x^2 & \Rightarrow & g'(x) = 2x \end{array} \] Damit erhalten wir \[ \int x^2 \e^{3x}\,dx = \frac{1}{3}x^2\e^{3x} - \frac{2}{3} \int x \e^{3x}\,dx. \] Auf das Restintegral $\int x \e^{3x}\,dx$ können wir nun wieder partielle Integration anwenden \[ \begin{array}{lcl} f'(x) = \e^{3x} & \Rightarrow & f(x) = \frac{1}{3} \e^{3x} \\ g(x) = x & \Rightarrow & g'(x) = 1 \end{array} \] und erhalten damit \begin{eqnarray*} \int x^2 \e^{3x}\,dx & = & \frac{1}{3}x^2\e^{3x} - \frac{2}{3} \left( \frac{1}{3} x \e^{3x} - \frac{1}{3} \int \e^{3x}\,dx \right) \\[3mm] & = & \frac{1}{3}x^2\e^{3x} - \frac{2}{3} \left( \frac{1}{3} x \e^{3x} - \frac{1}{9} \e^{3x} \right) \\[3mm] & = & \frac{1}{3}x^2\e^{3x} - \frac{2}{9} x \e^{3x} + \frac{2}{27} \e^{3x} \\[3mm] & = & \frac{1}{3}\left(x^2 - \frac{2}{3}x + \frac{2}{9} \right) \e^{3x} + c \end{eqnarray*}

Muster für partielle Integration

Es existieren verschiedene Funktionsmuster, zu denen Du immer eine Stammfunktion durch eventuell mehrfache Anwendung der partiellen Integration konstruieren kannst. Ich zeige Dir im Folgenden zwei solcher Muster.

Es sei $p(x)$ ein Polynom mit Grad $n$ und $\alpha,\beta \in\R$ mit $\alpha \neq 0$. Dann kannst Du ein unbestimmtes Integral der Form \[ \int p(x) \left\{ \begin{array}{c} \e^{\alpha x + \beta} \\ \sin(\alpha x + \beta) \\ \cos(\alpha x + \beta) \\ \sinh(\alpha x + \beta) \\ \cosh(\alpha x + \beta) \end{array} \right\}\,dx \] immer mit $n$ partiellen Integrationen lösen. Dazu setzen wir \[ \begin{array}{lcl} f'(x) = \left\{ \begin{array}{c} \e^{\alpha x + \beta} \\ \sin(\alpha x + \beta) \\ \cos(\alpha x + \beta) \\ \sinh(\alpha x + \beta) \\ \cosh(\alpha x + \beta) \end{array} \right\} & \Rightarrow & f(x) = \frac{1}{\alpha} \left\{ \begin{array}{c} \e^{\alpha x + \beta} \\ -\cos(\alpha x + \beta) \\ \sin(\alpha x + \beta) \\ \cosh(\alpha x + \beta) \\ \sinh(\alpha x + \beta) \end{array} \right\} \\ g(x) = p(x) & \Rightarrow & g'(x) = p'(x). \end{array} \] Damit erhalten wir \[ \int p(x) \left\{ \begin{array}{c} \e^{\alpha x + \beta} \\ \sin(\alpha x + \beta) \\ \cos(\alpha x + \beta) \\ \sinh(\alpha x + \beta) \\ \cosh(\alpha x + \beta) \end{array} \right\}\,dx = \frac{1}{\alpha} p(x) \left\{ \begin{array}{c} \e^{\alpha x + \beta} \\ -\cos(\alpha x + \beta) \\ \sin(\alpha x + \beta) \\ \cosh(\alpha x + \beta) \\ \sinh(\alpha x + \beta) \end{array} \right\} - \frac{1}{\alpha} \int p'(x) \left\{ \begin{array}{c} \e^{\alpha x + \beta} \\ -\cos(\alpha x + \beta) \\ \sin(\alpha x + \beta) \\ \cosh(\alpha x + \beta) \\ \sinh(\alpha x + \beta) \end{array} \right\} dx \] Das Restintegral ist von der gleichen Form wie das Ausgangsintegral, nur dass das Polynom $p'(x)$ einen Grad hat, der um eins geringer ist als der von $p(x)$. Daher können wir auf das Restintegral wiederum partielle Integration anwenden. Da die $n$-te Ableitung von $p(x)$ eine Konstante ist, verschwindet das Polynom nach $n$ partiellen Integrationsschritten und es verbleibt als Restintegral \[ \int \left\{ \begin{array}{c} \e^{\alpha x + \beta} \\ -\cos(\alpha x + \beta) \\ \sin(\alpha x + \beta) \\ \cosh(\alpha x + \beta) \\ \sinh(\alpha x + \beta) \end{array} \right\} dx, \] welches wir stets einfach lösen können.

Ich demonstriere Dir dieses Vorgehen an einem Beispiel.

Beispiel 4

Wir wollen \[ \int (x^3+2x-3) \cos(5x+\pi)\,dx \] bestimmen. Da $p(x) = x^3 + 2x -3$ den Grad $3$ hat, werden wir dazu drei partielle Integrationen benötigen.

Zunächst setzen wir \[ \begin{array}{lcl} f'(x) = \cos(5x+\pi) & \Rightarrow & f(x) = \frac{1}{5}\sin(5x+\pi) \\ g(x) = x^3+2x-3 & \Rightarrow & g'(x) = 3x^2 + 2 \end{array} \] und erhalten damit \[ \int (x^3+2x-3) \cos(5x+\pi)\,dx = \frac{1}{5}(x^3+2x-3)\sin(5x+\pi) - \frac{1}{5}\int (3x^2 + 2)\sin(5x+\pi)\,dx. \] Für das Restintegral setzen wir \[ \begin{array}{lcl} f'(x) = \sin(5x+\pi) & \Rightarrow & f(x) = -\frac{1}{5}\cos(5x+\pi) \\ g(x) = 3x^2 + 2 & \Rightarrow & g'(x) = 6x \end{array} \] Damit ergibt sich \begin{eqnarray*} \int (x^3+2x-3) \cos(5x+\pi)\,dx & = & \frac{1}{5}(x^3+2x-3)\sin(5x+\pi) - \frac{1}{5} \left( -\frac{1}{5}(3x^2+2)\cos(5x+\pi) + \frac{6}{5} \int x \cos(5x+\pi)\,dx \right) \\[3mm] & = & \frac{1}{5}(x^3+2x-3)\sin(5x+\pi) + \frac{1}{25} (3x^2+2)\cos(5x+\pi) - \frac{6}{25} \int x \cos(5x+\pi)\,dx \end{eqnarray*} Für das verbleibende Integral setzen wir nun \[ \begin{array}{lcl} f'(x) = \cos(5x+\pi) & \Rightarrow & f(x) = \frac{1}{5}\sin(5x+\pi) \\ g(x) = x & \Rightarrow & g'(x) = 1 \end{array} \] Wir erhalten \begin{eqnarray*} \int (x^3+2x-3) \cos(5x+\pi)\,dx & = & \frac{1}{5}(x^3+2x-3)\sin(5x+\pi) + \frac{1}{25} (3x^2+2)\cos(5x+\pi) - \frac{6}{25} \int x \cos(5x+\pi)\,dx \\[3mm] & = & \frac{1}{5}(x^3+2x-3)\sin(5x+\pi) + \frac{1}{25} (3x^2+2)\cos(5x+\pi) - \frac{6}{25} \left( \frac{1}{5}x\sin(5x+\pi) - \frac{1}{5} \int \sin(5x+\pi)\,dx \right) \\[3mm] & = & \frac{1}{5}(x^3+2x-3)\sin(5x+\pi) + \frac{1}{25} (3x^2+2)\cos(5x+\pi) - \frac{6}{125} x\sin(5x+\pi) + \frac{6}{125} \int \sin(5x+\pi)\,dx \\[3mm] & = & \frac{1}{5}(x^3+2x-3)\sin(5x+\pi) + \frac{1}{25} (3x^2+2)\cos(5x+\pi) - \frac{6}{125} x\sin(5x+\pi) - \frac{6}{625} \cos(5x+\pi) + c. \end{eqnarray*}

Jetzt folgt ein weiteres Funktionsmuster, dass immer mittels partieller Integration gelöst werden kann.

Es sei $p(x)$ ein Polynom und $P(x)$ sei die Stammfunktion von $p(x)$ mit Konstante $c=0$. Dann kannst Du das unbestimmte Integral der Form \[ \int p(x)\log(x)\,dx \] immer mit genau einer partiellen Integration lösen. Hierzu setzt Du \[ \begin{array}{lcl} f'(x) = p(x) & \Rightarrow & f(x) = P(x) \\ g(x) = \log(x) & \Rightarrow & g'(x) = \frac{1}{x} \end{array} \] Damit ergibt sich \[ \int p(x)\log(x)\,dx = P(x)\log(x) - \int P(x)\cdot\frac{1}{x} \,dx. \] Nun ist $P(x)$, wegen $c=0$, durch $x$ dividierbar und somit wieder ein Polynom, womit das Restintegral einfach bestimmbar ist.

Beispiel 5

Wir wollen \[ \int (x^3 + 2x - 3)\log(x)\,dx \] bestimmen. Wir setzen \[ \begin{array}{lcl} f'(x) = x^3 + 2x -3 & \Rightarrow & f(x) = \frac{1}{4}x^4 + x^2 - 3x \\ g(x) = \log(x) & \Rightarrow & g'(x) = \frac{1}{x}. \end{array} \] Dann ergibt sich mit partieller Integration \begin{eqnarray*} \int (x^3 + 2x - 3)\log(x)\,dx & = & \left(\frac{1}{4}x^4 + x^2 - 3x\right)\log(x) - \int \left(\frac{1}{4}x^4 + x^2 - 3x\right) \cdot \frac{1}{x}\,dx \\ & = & \left(\frac{1}{4}x^4 + x^2 - 3x\right)\log(x) - \int \frac{1}{4}x^3 + x - 3\,dx \\ & = & \left(\frac{1}{4}x^4 + x^2 - 3x\right)\log(x) - \left(\frac{1}{16}x^4 + \frac{1}{2}x^2 - 3x\right) + c \end{eqnarray*}

In einer späteren Blogfolge werde ich zeigen, dass wir diesen Ansatz auf Integrale der Form \[ \int p(x) \log(q(x))\,dx \] ausdehnen können, wobei $q(x)$ ein Polynom ist. Allerdings benötigen wir dann nach der partiellen Integration eine weitere Integrationstechnik, die ich erst in einer späteren Blog-Folge vorstellen werde.

Teilen und Drucken