Analysis-Blog: Folge 19
Peter Becker
veröffentlicht: 12 Apr 2024, zuletzt geändert: 19 Apr 2024 15:33
Schlüsselwörter: Folge, Grenzwert, konvergent, divergent, Nullfolge
Der wichtigste Begriff der Analysis ist der des Grenzwerts. In dieser Blog-Folge werde ich den Begriff definieren und erläutern. Weiterhin betrachten wir erste Beispiele zum Nachweis der Grenzwerteigenschaft.
Wenn Du die drei Folgen \begin{eqnarray*} a_n & = & \frac{1}{n} \\ b_n & = & n \\ c_n & = & (-1)^n \end{eqnarray*} betrachtest, dann sollte Dir ein bedeutender Unterschied zwischen der Folge $(a_n)$ einerseits und den Folgen $(b_n)$ und $(c_n)$ andererseits auffallen: Die Folgenglieder von $(a_n)$ nähern sich immer stärker der $0$, wogegen die Folgenglieder der beiden anderen Folgen sich keiner Zahl nähern. Bei der Folge $(b_n)$ werden die Folgenglieder unendlich groß und bei $(c_n)$ springen die Folgenglieder stets zwischen $-1$ und $1$ hin und her. Hier liegt also auch keine Annäherung an eine einzelne reelle Zahl vor.
Wenn sich die Folgenglieder einer Folge wie im Falle von $(a_n)$ einer Zahl immer stärker annähern, dann bezeichnet man diese Zahl als Grenzwert der Folge. Für eine mathematische Definition des Begriffs "Grenzwert" benötigen wir aber eine exakte Charakterisierung in Form einer logischen Aussage. Die anschauliche Vorstellung der immer stärkeren Annäherung ist als wissenschaftliche Definition nicht geeignet. In den nächsten Absätzen möchte ich deutlich machen, wie wir von der anschaulichen Vorstellung eines Grenzwertes zu solch einer exakten Definition kommen.
Wir starten mit unserer anschaulichen Vorstellung als dem erstem Versuch einer Definition.
Eine Zahl $a\in\R$ heißt Grenzwert einer Folge $(a_n)$, wenn sich die Folgenglieder $a_n$ der Zahl $a$ immer stärker annähern.
Diese Definition hat zwei Probleme: Erstens ist nicht genau klar was "annähern" bedeutet, zweitens ist die Formulierung "immer stärker" in diesem Kontext vage. Wir müssen also präziser werden.
Bei der Annäherung müssen wir uns beispielsweise fragen, wie nahe die Folgenglieder dem Grenzwert kommen müssen, damit wir von einem Grenzwert sprechen dürfen. Die Antwort darauf ist: beliebig nahe. Jeder mögliche positive Abstand, den man vorgeben könnte, soll unterschritten werden. Mit dieser Idee formulieren wir den zweiten Versuch der Grenzwertdefinition.
Eine Zahl $a\in\R$ heißt Grenzwert einer Folge $(a_n)$, wenn der Abstand zwischen $a_n$ und $a$ stets irgendwann kleiner wird als $\epsilon > 0$.
In dieser Definition ist die Formulierung "stets irgendwann kleiner wird" noch vage. Weiterhin können wir den Begriff des Abstands präzisieren, denn der Abstand zwischen $a_n$ und $a$ ist $|a_n-a|$. Damit formulieren wir Versuch Nummer drei.
Eine Zahl $a\in\R$ heißt Grenzwert einer Folge $(a_n)$, wenn für alle $\epsilon > 0$ irgendwann $|a_n -a| < \epsilon$ gilt.
Die Formulierung "immer" aus dem zweiten Definitionsversuch steckt jetzt in der Formulierung "für alle", eine mathematisch präzise Ausdrucksweise. Vage ist jetzt einerseits noch die Formulierung "irgendwann", andererseits für welche $n$ ab diesem "irgendwann" die Ungleichung $|a_n -a| < \epsilon$ gelten soll. Den zweiten Punkt können wir leicht klären: Natürlich sollen "irgendwann" alle Folgenglieder vom Grenzwert einen Abstand kleiner als $\epsilon$ haben. Schauen wir uns Definitionsversuch vier an.
Eine Zahl $a\in\R$ heißt Grenzwert einer Folge $(a_n)$, wenn für alle $\epsilon > 0$ ab einem Index $n_0$ die Ungleichung $|a_n -a| < \epsilon$ für alle $n$ gilt.
Das ist jetzt schon fast die tatsächliche Definition. Aus "irgendwann" haben wir präziser "ab einem Index $n_0$" gemacht. Nichtsdestotrotz ist diese Formulierung "ab einem Index $n_0$" noch etwas ungeschickt, denn in der Mathematik versuchen wir Aussagen prädikatenlogisch zu formulieren, also mit All- und Existenzquantoren. Hier ist wesentlich, dass solch ein Index $n_0$ existiert, ab dem dann alle Folgenglieder vom Grenzwert einen Abstand kleiner als $\epsilon$ haben. Also führen wir an dieser Stelle einen Existenzquantor ein. Damit erhalten wir die exakte Definition für einen Grenzwert.
Es sei $(a_n)$ eine reelle Zahlenfolge.
Eine Zahl $a\in\mathbb{R}$ heißt Grenzwert der Folge $(a_n)$, wenn zu jeder (noch so kleinen) reellen Zahl $\epsilon > 0$ eine Zahl $n_0\in\mathbb{N}$ existiert, so dass für alle natürlichen Zahlen $n \geq n_0$ \[ |a_n - a| < \epsilon \] gilt, oder kurz \[ a \text{ ist Grenzwert von } (a_n) \quad :\Longleftrightarrow\quad \forall \epsilon>0\,\exists n_0\in\mathbb{N}\,\forall n\geq n_0 : |a_n - a| < \epsilon. \]
Die nachfolgende Grafik verdeutlich die Grenzwertdefinition. Egal wie klein die positive Zahl $\epsilon$ auch ist: Ab einem Index $n_0$ müssen alle Folgenglieder in dem Bereich zwischen $a-\epsilon$ und $a+\epsilon$ liegen.
Dabei hängt der Index $n_0$ natürlich von $\epsilon$ ab. Wenn $\epsilon$ relativ groß ist, dann muss $n_0$ eventuell auch nicht besonders groß gewählt werden. Für einen kleineren Wert $\epsilon_1 < \epsilon$ müssen wir in der Regel den zugehörigen Index, nennen wir ihn jetzt $n_1$, größer wählen. Dies verdeutlicht die nächste Grafik.
Wir sehen, dass für $\epsilon_1 < \epsilon$ ein größerer Index gewählt werden muss, damit sich alle nachfolgenden Folgenglieder in dem Bereich zwischen $a - \epsilon_1$ und $a+\epsilon_1$ befinden. Wesentlich für die Definition des Grenzwertes ist aber, dass wir zu jedem $\epsilon$ solch einen Index $n_0$ finden. Genau dies muss erfüllt sein, damit wir von einem Grenzwert sprechen können.
Nachdem wir nun den Grenzwertbegriff eingeführt haben, können wir auch den wichtigen Begriff der Konvergenz definieren.
Eine reelle Folge $(a_n)$ heißt konvergent, wenn sie einen Grenzwert hat.
Eine konvergente Folge mit Grenzwert $0$ heißt Nullfolge.
Wenn eine Folge $(a_n)$ nicht konvergent ist, dann heißt sie divergent.
Jede reelle Folge ist also entweder konvergent oder divergent, und konvergent ist sie genau dann, wenn sie einen Grenzwert hat.
Es ist hilfreich, auch diese Begriffe in Quantorenschreibweise zu charakterisieren. Es gilt \[ (a_n) \text{ ist konvergent} \Longleftrightarrow \exists a\in\R\forall \epsilon>0\exists n_0\in\N\forall n \geq n_0: |a_n -a | < \epsilon, \] denn $(a_n)$ ist ja genau dann konvergent, wenn ein Grenzwert existiert. Wir müssen also nur den Existenzquantor vor die Grenzwertdefinition setzen.
Weiterhin gilt \[ (a_n) \text{ ist Nullfolge} \Longleftrightarrow \forall \epsilon>0\exists n_0\in\N\forall n \geq n_0: |a_n| < \epsilon, \] denn der Begriff der Nullfolge verlangt den speziellen Grenzwert $0$. Wir müssen also nur die $0$ in die Grenzwertdefinition einsetzen.
Bleibt noch der Begriff der Divergenz. Eine Folge ist genau dann divergent, wenn sie nicht konvergent ist. Wir müssen also nur die prädikatenlogische Charakterisierung der Konvergenz von oben verneinen. \begin{eqnarray*} (a_n) \text{ ist divergent} & \Longleftrightarrow & \neg((a_n) \text{ ist konvergent}) \\ & \Longleftrightarrow & \neg\left( \exists a\in\R\forall \epsilon>0\exists n_0\in\N\forall n \geq n_0: |a_n -a | < \epsilon \right) \\ & \Longleftrightarrow & \forall a \in \R \exists \epsilon>0 \forall n_0\in\N\exists n \geq n_0: |a_n -a | \geq \epsilon \end{eqnarray*} Die letzte Äquivalenz zeigt Dir beispielhaft, wie eine quantifizierte Aussage negiert wird: Alle Quantoren werden vertauscht, d. h. aus einem Existenzquantor wird ein Allquantor und umgekehrt, die einschränkenden Bedingungen bei den Quantoren bleiben erhalten (z. B. $\epsilon > 0$) und die innere Aussage wird negiert. Dementsprechend wird hier aus $|a_n -a | < \epsilon$ durch Negation $|a_n -a| \geq \epsilon$.
Die Folge $(a_n)_{n\in\mathbb{N}}$ mit $a_n=\frac{1}{n}$ hat den Grenzwert $0$.
Beweis: Es sei $\epsilon > 0$ beliebig. Wir wählen $n_0 > \frac{1}{\epsilon}$ was nach dem Archimedischem Prinzip immer möglich ist. Mit dieser Wahl von $n_0$ folgt für alle $n\geq n_0$: \[ |a_n - a| = \left|\frac{1}{n} - 0\right| = \frac{1}{n} \leq \frac{1}{n_0} < \epsilon. \] Die erste Ungleichung gilt, weil $n \geq n_0$. Die zweite Ungleichung gilt, weil wir $n_0$ so gewählt haben, dass $n_0 > \frac{1}{\epsilon}$ gilt, woraus $\frac{1}{n_0} < \epsilon$ folgt.
An diesem Beispiel sieht man gut, wie die Größe von $\epsilon$ wiederum die Größe von $n_0$ beeinflusst. Für $\epsilon = \frac{1}{10}$ könnten wir $n_0 = 11$ wählen, denn \[ \frac{1}{\frac{1}{10}} = 10 < 11. \] Wenn wir jetzt $\epsilon$ verkleinern, müssen wir dementsprechend $n_0$ größer wählen. Für $\epsilon = \frac{1}{100}$ wäre $n_0 = 101$ möglich, für $\epsilon = 10^{-6}$ müssten wir dagegen schon $n_0 = 10^6 + 1 = 1000001$ wählen.
Die Folge $(b_n)_{n\in\mathbb{N}}$ mit $b_n = 1 - \frac{1}{n}$ hat den Grenzwert $1$.
Wegen \[ |b_n - 1| = \left|1 - \frac{1}{n} - 1\right| = \left| -\frac{1}{n} \right| = \frac{1}{n} \] verläuft der Beweis analog zur Folge $(a_n)$ des Beispiels davor.
Die Folge $(c_n)$ mit $c_n = q^n$ hat für alle $0 < q < 1$ den Grenzwert $0$.
Dies folgt direkt aus Satz 3 dieser Blog-Folge. Danach gilt, dass für alle $q \in \R$ mit $0 < q < 1$ und alle $\epsilon > 0$ ein $n_0\in\N$ existiert, so dass \[ c_{n_0} = q^{n_0} < \epsilon \] erfüllt ist. Wegen $c_n \leq c_{n_0}$ für alle $n \geq n_0$ ist somit die Grenzwertdefinition erfüllt.
Die Folge $(d_n)$ mit $d_n = \sqrt[n]{K}$ hat für alle $K \geq 1$ den Grenzwert $1$.
Beweis: Es sei $x_n:= \sqrt[n]{K}-1$ womit $d_n = 1 + x_n$ sowie $(1+x_n)^n = d_n^n = K$ gilt.
Jetzt wenden wir die Bernoullische Ungleichung an: \[ K = (1+x_n)^n \geq 1 + n x_n. \] Damit folgt $x_n < \frac{K}{n}$ und \[ |d_n -1| = \left|\sqrt[n]{K} - 1 \right| = x_n < \epsilon \] für alle $n \geq n_0 > \frac{K}{\epsilon}$.
Die Folge $(e_n)$ mit $e_n = q^n$ ist für alle $q>1$ divergent.
Dies folgt direkt aus Satz 2 dieser Blog-Folge. Demnach existiert für alle reellen Zahlen $M$ ein $n\in\N$, so dass \[ q^n > M \] gilt. Die Folgenglieder werden also beliebig groß, womit kein Grenzwert existieren kann.
Die Folge $(f_n)$ mit $f_n = (-1)^n$ ist divergent.
Beweis:
Für jedes $f\notin \{1,-1\}$ und \[ \epsilon = \frac{1}{2}\min\{|f-1|,|f+1]\} > 0, \] gilt $|f_n-f|\geq\epsilon$ für alle $n\in\mathbb{N}$.
Also kommen nur $1$ und $-1$ als Grenzwert in Frage.
Sei $f=1$. Zur Erinnerung: Wir müssen \[ \exists \epsilon > 0 \forall n_0 \in \N \exists n \geq n_0: |f_n - f| \geq \epsilon \] nachweisen.
Wir wählen $\epsilon=1$. Sei nun $n_0\in\mathbb{N}$ beliebig. Dann wählen wir $n=2n_0+1$. Damit gilt \[ |f_n - f| = |(-1)^{2n_0+1}-1| = |-1-1| = 2 \geq \epsilon=1. \]
Sei $f = -1$. Wir wählen wieder $\epsilon=1$. Sei nun $n_0\in\mathbb{N}$ beliebig. Dann wählen wir $n=2n_0$. Damit gilt \[ |f_n - f| = |(-1)^{2n_0} - (-1)| = |1+1| = 2 \geq \epsilon=1. \]
Wir haben gesehen, dass Folgen einen Grenzwert haben können. Hier drängt sich natürlich die Frage auf, ob solch ein Grenzwert eindeutig ist. Wäre es möglich, dass eine Folge mehrere verschiedene Grenzwerte hat? Der folgende Satz zeigt, dass dies niemals der Fall sein kann.
Es sei $(a_n)$ eine konvergente Folge und $a$ und $a'$ seien Grenzwerte von $(a_n)$.
Dann gilt $a = a'$, d. h. der Grenzwert einer konvergenten Folge stets eindeutig bestimmt.
Jeder Beweis benötigt eine Beweisidee. Die Beweisidee für den vorigen Satz ist die folgende: Angenommen es gilt $a\neq a'$. Dann haben $a$ und $a'$ einen positiven Abstand. Jetzt wählen wir als $\epsilon$ einen Wert, der kleiner ist als die Hälfte dieses Abstands. Damit sind die $\epsilon$-Umgebungen von $a$ und $a'$ disjunkt. Da aber sowohl $a$ als auch $a'$ ein Grenzwert ist, müssten ab einem Index $n_0$ alle Folgenglieder sowohl in der $\epsilon$-Umgebungen von $a$ als auch in der von $a'$ liegen. Dies ist aber nicht möglich, da diese Umgebungen ja disjunkt sind.
Jetzt müssen wir diese Beweisidee nur noch formalisieren.
Es sei $(a_n)$ eine konvergente Folge und sowohl $a$ als auch $a'$ sei ein Grenzwert von $(a_n)$.
Wir nehmen an, dass $a\neq a'$ gilt.
Aus der Annahme folgt $|a-a'| > 0$. Wir wählen \[ 0<\epsilon<\frac{1}{2}|a-a'|. \] Dann existieren nach Voraussetzung, weil $(a_n)$ konvergent ist, $n_1\in\N$ und $n_2\in\N$ mit \begin{align} & \forall n\geq n_1 : |a_n-a|<\epsilon\\ & \forall n\geq n_2 : |a_n-a'|<\epsilon. \end{align} Für $n\geq\max\{n_1,n_2\}$ folgt \begin{eqnarray*} |a-a'| & = & |a-a_n + a_n - a'|\\ & \leq & |a-a_n| + |a_n-a'|\\ & < & 2\epsilon\\ & < & |a-a'|, \end{eqnarray*} was ein Widerspruch ist: $|a-a'| < |a-a'|$ kann nicht wahr sein. Also ist die Annahme falsch und es gilt $a=a'$.
Beachte den Rechentrick \[ |a-a'| = |a-a_n + a_n - a'|, \] den wir im letzten Beweis verwendet haben. Wir erweitern hier den Term $a - a'$ um $-a_n + a_n =0$. Warum? Um im nächsten Schritt die Dreiecksungleichung anwenden und damit wiederum die Voraussetzungen nutzen zu können. Dieser Trick wird uns noch oft begegnen. Merke Dir dieses Vorgehen!
Für eindeutig bestimmte Objekte führt man in der Mathematik häufig eine spezielle Notation ein. So auch für Grenzwerte von konvergenten Folgen.
Damit haben wir die für die Analysis so wichtige Notation $\lim_{n\rightarrow\infty} a_n$ eingeführt. Wenn wir also \[ \lim_{n\rightarrow\infty} a_n = a \] lesen, dann bedeutet dies erstens, dass die Folge $(a_n)$ konvergent ist und zweitens, dass der Grenzwert gleich $a$ ist.
An den Beispielen 1 bis 4 in dieser Blog-Folge hast Du schon gesehen, dass es u. U. recht schwierig ist, die Konvergenz einer Folge mit der Grenzwertdefinition zu beweisen. Daher liegt die Frage nahe, ob es nicht Rechenregeln für konvergente Folgen gibt, mit denen wir solch einen Nachweis einfacher erbringen können. Mit solchen Rechenregeln für konvergente Folgen setzen wir uns in der nächsten Blog-Folge auseinander.