Analysis-Blog: Folge 11
Peter Becker
veröffentlicht: 22 Mar 2024, zuletzt geändert: 30 Jul 2024 18:03
Schlüsselwörter: Supremum, obere Schranke, Maximum, archimedisches Prinzip, Vollständigkeitsaxiom, vollständiger Körper, Wurzel, Potenz, Potenzgesetze
Nachdem wir jetzt wissen, was ein Supremum ist, werden wir den Begriff in dieser Blog-Folge geschickt einsetzen. Unsere Absicht ist es, dafür zu sorgen, dass Gleichungen wie beispielsweise $x^2 = 2$ in den reellen Zahlen lösbar sind. Hier zeige ich Dir, wie uns dies gelingt.
Wir hatten hier gesehen, dass die Gleichung $x^2 = 2$ im Körper $\mathbb{Q}$ der rationalen Zahlen keine Lösung hat. Wir wollen diesen Mangel mit dem Begriff des Supremums charakterisieren. Hierzu betrachten wir die Menge \[ A := \{x \in \mathbb{Q} | x^2 \leq 2 \}. \] Diese Menge ist zwar nichtleer und nach oben beschränkt, hat in den rationalen Zahlen aber kein Supremum, denn das Supremum wäre ja gerade die positive Lösung der Gleichung $x^2 = 2$. Wir können also in den rationalen Zahlen nach oben beschränkte Mengen definieren, die kein Supremum haben. In diesem Sinne sind die rationalen Zahlen lückenhaft. Angeordnete Körper, bei denen dies nicht auftreten kann, nennen wir vollständig.
Damit ist $\mathbb{Q}$ zwar ein angeordneter Körper, aber nicht vollständig. Diesen Mangel können wir für die reellen Zahlen recht einfach beheben, indem wir per Axiom fordern, dass die reellen Zahlen einen vollständigen Körper bilden.
Aber reicht dies jetzt wirklich aus, damit $x^2 = 2$ eine Lösung hat? Ja! Ich werde es unten beweisen und damit dann gleich den Begriff der Wurzel einführen. Vorher schauen wir uns noch eine andere wichtige Eigenschaft der reellen Zahlen an, das sogenannte Archimedische Prinzip.
Das archimedische Prinzip ist die erste Konsequenz aus der Vollständigkeit der reellen Zahlen. Wir werden es im weiteren Verlauf des Kurses permanent nutzen.
Das archimedische Prinzip besagt, dass wir für jede reelle Zahl $x$ eine natürliche Zahl $n$ finden, die noch größer als $x$ ist. Dieses Prinzip hatte ich auch schon in Beispielen benutzt und dabei an Deine Anschauung appelliert. Mit dem Vollständigkeitsaxiom können wir nun tatsächlich beweisen, dass dies immer der Fall ist.
Wir führen einen Widerspruchsbeweis und nehmen an, dass $\N$ eine nach oben beschränkte Teilmenge ist.
Nach dem Vollständigkeitsaxiom existiert dann das Supremum $S := \sup(\N)$. Damit ist $S-1$ keine obere Schranke mehr für $\N$. Es muss also eine natürliche Zahl $n$ existieren mit $n > S - 1$. Dann ist aber $n+1\in\N$ auch eine natürliche Zahl und es gilt $n+1 > S$. Dies ist natürlich ein Widerspruch dazu, dass $S$ das Supremum von $\N$ sein soll.
Mit dem Archimedischen Prinzip können wir zwei wichtige Aussagen zum Wachstum von Potenzen beweisen. Hier die Erste.
Es sei $a \in \R$ mit $a > 1$.
Dann existiert für alle $M\in\R$ ein $n\in\N$, so dass \[ a^n > M \] gilt.
Etwas anschaulicher ausgedrückt sagt dieser Satz aus, dass die Potenzen einer Zahl $a > 1$ beliebig groß werden. Im Beweis des Satzes nutzen wir die Bernoullische Ungleichung.
Für $0 < a < 1$ können wir eine analoge Aussage formulieren und beweisen.
Es sei $a \in \R$ mit $0 < a < 1$.
Dann existiert für alle $\epsilon > 0$ ein $n\in\N$, so dass \[ a^n < \epsilon \] gilt.
Die Potenzen einer Zahl $0 < a < 1$ kommen also beliebig nahe an die Null.
Wir machen uns zunächst klar, dass die folgenden Aussagen gelten:
$0 < a < 1 \Rightarrow a^{-1} > 1$,
$\left(a^{-1}\right)^n = \left(a^n\right)^{-1}$ und
$0 < a^{-1} < b^{-1} \Rightarrow a > b$.
Alle drei Aussagen können wir sehr einfach beweisen. Versuche es selbst! Wenn Du die Lösungen sehen willst, dann klicke den Button.
Wegen $a >0 $ gilt auch $a^{-1} > 0$. Damit erhalten wir: \begin{eqnarray*} a < 1 & \Rightarrow & a \cdot a^{-1} < 1 \cdot a^{-1} \\ & \Rightarrow & 1 < a^{-1}. \end{eqnarray*}
Es gilt: \begin{eqnarray*} a^n \cdot \left(a^{-1}\right)^n & = & \underbrace{a\cdot \ldots \cdot a}_{n\text{-mal}} \cdot \underbrace{a^{-1} \cdot \ldots \cdot a^{-1}}_{n\text{-mal}} \\ & = & \underbrace{a\cdot \ldots \cdot a}_{n-1\text{-mal}} \cdot \underbrace{a \cdot a^{-1}}_{=1} \cdot \underbrace{a^{-1} \cdot \ldots \cdot a^{-1}}_{n-1\text{-mal}} \\ & = & \underbrace{a\cdot \ldots \cdot a}_{n-2\text{-mal}} \cdot \underbrace{a \cdot a^{-1}}_{=1} \cdot \underbrace{a^{-1} \cdot \ldots \cdot a^{-1}}_{n-2\text{-mal}} \\ & \vdots & \\ & = & a\cdot a^{-1} \\ & = & 1. \end{eqnarray*} Also ist $\left(a^{-1}\right)^n$ das multiplikativ Inverse zu $a^n$. Somit gilt: \[ \left(a^n\right)^{-1} = \left(a^{-1}\right)^n. \]
Zunächst gilt \[ a^{-1} > 0 \Rightarrow \left(a^{-1}\right)^{-1} > 0 \Rightarrow a > 0. \] und analog damit auch $b > 0$. Damit können wir nun folgern: \begin{eqnarray*} a^{-1} < b^{-1} & \Rightarrow & a\cdot a^{-1} < a \cdot b^{-1} \\ & \Rightarrow & 1 < a \cdot b^{-1} \\ & \Rightarrow & b\cdot 1 < b\cdot a \cdot b^{-1} \\ & \Rightarrow & b < a. \end{eqnarray*}
Es sei nun $a \in \R$ mit $0 < a < 1$. Aus (i) folgt $a^{-1} > 1$. Jetzt nutzen wir für $a^{-1}$ die Aussage von Satz 2. Danach existiert für $M := \epsilon^{-1}$ ein $n\in\N$ mit \[ \left(a^{-1}\right)^n > \epsilon^{-1}. \] Mit (ii) ergibt sich \[ \left(a^n\right)^{-1} > \epsilon^{-1}. \] Wegen $\epsilon > 0$ gilt auch $\epsilon^{-1} > 0$. Mit (iii) folgt dann \[ a^n < \epsilon. \]
Wir hatten das Vollständigkeitsaxiom eingeführt, damit Gleichungen wie $x^2 = 2$ in den reellen Zahlen eine Lösungen haben.
Wir müssen zwei Dinge nachweisen: Eindeutigkeit und Existenz. Der Beweis der Eindeutigkeit ist deutlich einfacher, deshalb beginnen wir damit.
Beim Beweis der Existenz konstruieren wir praktisch eine Lösung $a$. Hierzu nutzen wir die Supremumsdefinition. Anschließend weisen wir nach, dass tatsächlich $a^2 = 2$ gilt. Dieser Nachweis erfolgt aber indirekt, indem wir zeigen, dass weder $a^2 <2$ noch $a^2 > 2$ gelten kann.
Wir definieren \[ A := \{x \in \R_+ | x^2 \leq 2 \}. \] Die Menge $A$ ist nach oben beschränkt, also existiert das Supremum von $A$. Es sei \[ a := \sup(A). \] Wir zeigen jetzt durch zwei Widerspruchsbeweise, dass $a^2 = 2$ gilt.
Annahme: Es gilt $a^2 < 2$.
Dann gilt $2 - a^2 > 0$. Nach dem Archimedischen Prinzip existiert ein $n\in\N$ mit \[ \frac{2a+1}{2 -a^2} < n. \] Wir lösen die Ungleichung so auf, dass auf der rechten Seite die $2$ steht: \begin{eqnarray*} & & \frac{2a+1}{2 -a^2} < n \\ & \Longrightarrow & 2a+1 < n(2-a^2) \\ & \Longrightarrow & \frac{2a+1}{n} < 2 - a^2 \\ & \Longrightarrow & a^2 + \frac{2a+1}{n} < 2 \\ & \Longrightarrow & a^2 + \frac{2a}{n} + \frac{1}{n} < 2. \end{eqnarray*} Jetzt betrachten wir den Ausdruck $\left(a+\frac{1}{n}\right)^2$. Für diesen gilt \[ \left(a+\frac{1}{n}\right)^2 = a^2 + \frac{2a}{n} + \frac{1}{n^2} \leq a^2 + \frac{2a}{n} + \frac{1}{n} < 2. \] Bei "$\leq$" haben wir die Abschätzung $\frac{1}{n^2} \leq \frac{1}{n}$ verwendet.
Damit folgt $a+\frac{1}{n} \in A$ und $a + \frac{1}{n} > a = \sup(A)$, was ein Widerspruch ist.
Annahme: Es gilt $a^2 > 2$.
Dann gilt $a^2 - 2 > 0$. Nach dem Archimedischen Prinzip existiert ein $n\in\N$ mit \[ \frac{2a}{a^2 -2} < n. \] Wir lösen die Ungleichung wieder so auf, dass auf der rechten Seite die $2$ steht: \begin{eqnarray*} & & \frac{2a}{a^2 -2} < n \\ & \Longrightarrow & 2b < n(a^2 - 2) \\ & \Longrightarrow & \frac{2a}{n} < a^2 - 2 \\ & \Longrightarrow & a^2 - \frac{2a}{n} > 2. \end{eqnarray*} Jetzt betrachten wir den Ausdruck $\left(a - \frac{1}{n}\right)^2$. Für diesen gilt \[ \left(a - \frac{1}{n}\right)^2 = a^2 - \frac{2a}{n} + \frac{1}{n^2} > a^2 - \frac{2a}{n} > 2. \] Beim ersten "$>$" haben wir die Abschätzung $\frac{1}{n^2} > 0$ verwendet.
Damit wäre $a-\frac{1}{n} < a$ eine obere Schranke von $A$, was wiederum ein Widerspruch ist, denn als Supremum müsste $a$ die kleinste obere Schranke sein.
Aus den beiden Widersprüchen folgt $a^2 = 2$.
Wenn wir in der Gleichung $x^2 = 2$ die rechte Seite durch eine beliebige positive Zahl $b$ ersetzen, bleibt die Aussage von Satz 4 erhalten. Ein Beweis für solch ein $b$ würde analog verlaufen. Ebenso gilt, dass auch für andere positive Potenzen statt $2$ genau eine positive Lösung existiert. Einen allgemeinen Beweis hierfür stelle ich aber nicht vor.
Für eindeutige Dinge vergibt man in der Mathematik oft spezielle Bezeichnungen. Hier machen wir das auch so. Die eindeutige positive Lösung der Gleichung $x^k = b$ nennen wir $k$-te Wurzel von $b$.
Es sei $b \in \R_+$ und $k\in\N$.
Die nach Satz 5 eindeutig bestimmte positive reelle Zahl $x$ mit der Eigenschaft $x^k = b$ heißt $k$-te Wurzel von $b$. Wir schreiben dafür $\sqrt[k]{b}$.
Für $k=2$ nennen wir $x$ auch die Quadratwurzel von $b$ oder einfach nur die Wurzel von $b$ und schreiben $\sqrt{b}$ statt $\sqrt[2]{b}$.
Wir setzen $\sqrt[k]{0} = 0$ für alle $k\in\N$.
Beachte, dass per Definition die Wurzeln immer die positive Lösung der Gleichung $x^k = b$ sind. Damit ist die Wurzel für eine nichtnegative reelle Zahl immer eindeutig bestimmt, auch wenn die Gleichung $x^k = b$ zwei Lösungen haben kann. Konkretes Beispiel: Die Gleichung $x^2 = 4$ hat in den reellen Zahlen die Lösungen $2$ und $-2$, aber $\sqrt{4} = 2$, per Definition.
Bisher haben wir nur ganze Zahlen als Exponenten zugelassen. Die Definition der $k$-ten Wurzeln ermöglicht es uns, auch rationale Zahlen als Exponenten zu erlauben.
Es sei $b\in\R_+$ und $r = \frac{p}{q} \in \mathbb{Q}$ mit $p\in\Z$ und $q\in\N$.
Dann definieren wir \[ b^r := \left(\sqrt[q]{b}\right)^p. \]
Die Potenz $b^r$ mit $r = \frac{p}{q}$ ist demnach die $p$-te Potenz der $q$-ten Wurzel von $b$. Da $q$ eine natürliche Zahl ist, ist die Existenz von $\sqrt[q]{b}$ durch unsere Wurzeldefinition gewährleistet. Der Zähler $p$ des Exponenten $r$ ist eine ganze Zahl, so dass mit unserer bisherigen Definition der Potenz für ganzzahlige Exponenten dann auch der Term $\left(\sqrt[q]{b}\right)^p$ eindeutig definiert ist.
Die folgenden Beispiele demonstrieren diese Definition der Potenz mit rationalen Exponenten.
Die folgende Proposition fasst die wichtigsten Potenzgesetze zusammen.
Für $a,b \in \R_+$ und $r,s\in\mathbb{Q}$ gilt:
$\left(a^r\right)^s = a^{rs}$
$a^r a^s = a^{r+s}$
$a^r b^r = (ab)^r$
$a\neq 0 \Rightarrow \left(\frac{1}{a}\right)^r = \frac{1}{a^r} = a^{-r}$
An dieser Stelle verzichte ich auf einen Beweis dieser Potenzgesetze. Wir werden später im Kurs auch reelle Zahlen als Exponenten zulassen. Die Definition hierfür erfordert aber eine Reihe weiterer Begriffe der Analysis, die erst in den Kapiteln 3 und 4 eingeführt werden. Sobald wir definiert haben, was $b^x$ für eine beliebige reelle Zahl $x$ bedeutet, werden wir auf diese Potenzgesetze zurückkommen und sie dann auch alle beweisen.
Die nächste Blog-Folge enthält eine Reihe von Übungen zum Begriff des vollständigen Körpers. Danach stelle ich die komplexen Zahlen vor.